Psychotherapeutische Praxis  Ralph Dengel
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Psychopathologie und Gesellschaft

 

Menschen sind in ihrem Denken und Handeln nicht nur durch die familiäre Herkunft geprägt, sondern auch den gesellschaftlichen Werten, Zielen und Idealen ihrer Zeit verpflichtet. Angesichts der Tatsache, dass sich die Zahl psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft stetig erhöht, ist die Auseinandersetzung mit der Frage herausfordernd, welche Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung einen destruktiven Einfluss auf die Gesundheit der Menschen haben. Ein solcher eher soziologisch orientierter Fokus ist auch deshalb angebracht, weil wir unter dem starken Einfluss der Biogenetik eine Wiederkehr des Erbgutgedankens und damit eine biologische Erklärung sozialer Phänomene erleben: Durch die angebliche „Entzifferung“ des genetischen Codes verstärken sich biologistische und eugenische Konzepte in den gesellschaftlichen Diskussionen und es entsteht die Gefahr, dass Merkmale des Menschen (z.B. psychische Erkrankungen, Intelligenz, Geschlechterrollen) nicht in ihrer Einbettung in gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge begriffen, sondern als Naturgegebenheiten beschrieben werden. Fakt ist jedoch, dass Biogenetiker und Entwicklungsbiologen keine sicheren Aussagen darüber machen können, welche Auswirkungen ein einzelnes Gen oder gar eine Gruppe von Genen auf komplexe emotionale und kognitive Eigenschaften des Menschen haben. Je weniger aber die sozialen Rahmenbedingungen einer Störung reflektiert werden, desto stärker wird die Tendenz sein, sie zu medikamentieren. Es entsteht dann, wie bei ADHS zu beobachten, die Vorstellung, dass eine Tablette Heil und Heilung bringen könnte. Seitdem Pharmafirmen in den USA 1997 ihre patentierten teuren und durch enorme Summen beworbenen Medikamente gegen ADHS auf den Markt brachten, hat sich die Zahl der Diagnosen verdreichfacht (Frances 2013). Das Medikament kommt dem gesellschaftlichen Bedürfnis entgegen, dass Störungen zügig beseitigt werden, und in der Tat: die Arzneigabe wirkt schnell, die Störung jedoch wird durch sie nicht geheilt! Eine familientherapeutische Intervention ist dagegen langwieriger, könnte aber die tieferliegenden Ursachen der Störung aufdecken und nachhaltig überwinden. Hierin zeigt sich politisches, therapeutisches und pädagogisches Versagen der Gesellschaft. Im Folgenden möchte ich versuchen, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und die aus ihnen erwachsenden problematischen Einflussfaktoren auf unsere Lebenswirklichkeit darzustellen.

 

Die Herausbildung des modernen Nationalstaats im 19. Jh. ging in Europa mit der politischen Bestrebung einher, institutionelle Strukturen (wie Schul- und Wehrpflicht, Ausbildung, Arbeit mit ihrem wechselnden Rhythmus zwischen Beruf und Freizeit und Formen sozialstaatlicher Absicherung usw.) zu schaffen, mit deren Hilfe immer einheitlichere Lebensläufe und –formen hervorgebracht werden konnten. Die Idee, dass „homogene Gesellschaften heterogenen Gesellschaften überlegen seien, dass Ähnlichkeit fortschrittsträchtiger sei als Vielfalt“ (Mergel 2009), war ein Grundgedanke der Politik, der in immer weiter zugespitzter Form etwa in den völkischen Reinheitsfantasien das Nationalsozialismus in brutalste Gewaltpolitik umschlug. In den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg haben die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse zu einem Wertewandel geführt, der Heterogenität, Differenz und Pluralität als Ideale begreift. Es beginnt das Zeitalter der Individualisierung: der Mensch, losgelöst aus tradierten (staatlichen, religiösen, sozialen, familiären) Zugehörigkeiten ist nun konfrontiert mit einer Vielzahl an Lebensstilen, an Wahl- und Handlungsmöglichkeiten und der Auflösung klarer Ordnungen. Am Beispiel des für unsere Gesellschaft so wichtigen Bereichs der Arbeit wird deutlich, dass die Zeit, in der sich die berufliche Existenz im Rahmen einer Festanstellung bis zur Rente in vorhersehbaren Bahnen abspielte, vorbei ist. Nun bestimmt der Gedanke der Flexibilität die Arbeitswelt: wechselnde Anstellungen, verschiedene berufliche Qualifikation, lebenslange Weiterbildung sind gefragt. Auch der Bereich von Familie und Partnerschaft hat sich verändert: verschiedenste Bindungsmodelle sind nun lebbar und die wachsende Zahl von Patchwork-Familien und Singlehaushalten zeugt davon.

 

Die vielfältigen Handlungsmöglichkeiten, die Menschen in unserer Gesellschaft haben, gehen einher mit einem Verlust von Gewissheiten und einer Zunahme von Komplexität und Risiken. Den Verlust von Sicherheit haben wir gegen einen Zugewinn an Freiheit eingetauscht. Es liegt auf der Hand, dass solche Lebensbedingungen das Grundbedürfnis nach Kontrolle und Orientierung bedrohen und dass der Wunsch des Menschen, Überblick und dadurch ein Gefühl von Schutz zu haben, leichter frustriert wird als früher. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum die Zahl an Menschen, die unter Angstzuständen und -erkrankungen leiden, zunimmt.

 

Der uralte Kampf des Individuums um Selbstbestimmung und Schutz vor Bevormundung führt zu neuen Widersprüchen, denn in Gesellschaften, die dem Prinzip der Individualität und Pluralität ein hohes Gewicht einräumen, nehmen die Handlungs- und Gestaltungsspielräume der Politik ab. Als problematisch zeigt sich dies im Bereich des Wirtschaftssystems, das nach weltweiten neoliberalen Strukturveränderungen immer weniger der Regulierung und Kontrolle durch die Politik unterliegt, wodurch sich der Einfluss und Druck des Marktes (man denke an die Wirtschafts- und Finanzkrisen der letzten Jahre) auf das gesellschaftliche Leben stetig erhöht. Während nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Politik der sozialen Marktwirtschaft die „Mitte“ der Gesellschaft über lange Zeit immer mehr Menschen integrierte, dreht sich dieser Prozess nun um und die Gesellschaft wird wieder ungleicher; Angst vor Abstieg und Armut spielen daher zunehmend eine Rolle. 

 

Der vom Fortschrittsoptimismus geprägte Grundgedanke des Wirtschaftssystems und das Heilsversprechen, welche die gesunde Entwicklung der Gesellschaft und des Kapitalismus garantieren sollen, ist der vom ständigen Wachstum und unablässiger Wohlstandsmehrung. Dieses „immer Mehr“ an Wachstum, Wettbewerb und Konkurrenz ist, durch die Globalisierung verschärft und durch sie eingefaltet in eine Dynamik der Beschleunigung, auch eine Forderung an unsere Leistungsbereitschaft und spannt Menschen in ein erschöpfendes Hamsterrad.

Die Glücksforschung konstatiert, dass die Zunahme des Wohlstands in unserer Gesellschaft schon länger nicht mehr mit der Erhöhung des Glücks korreliert. In Entwicklungsländern stellt sich dieser Zusammenhang noch anders dar: Hier trägt die Zunahme des Wohlstands entscheidend bei zu der Mehrung von Zufriedenheit, entlastet diese doch die Menschen vom täglichen existentiellen Überlebenskampf, was die Sicherstellung und Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse gestattet. In den reichen Ländern ist hingegen der existentielle Stress ersetzt durch einen statusbezogenen: Wir leben in einer Kultur des Vergleichs und so konkurrieren die Menschen um Privilegien, Distinktion, Güter, Anerkennung, Attraktivität usw. So entsteht ein nervenzehrender Wettbewerb um begrenzte Güter, denn ein Statuszugewinn bei einem Menschen setzt den Prestigeverlust eines anderen voraus.

 

Fernsehformate wie „Big Brother“ oder „Das Dschungelcamp“ bringen die sich neu etablierende Survival-Mentalität mit ihren Imperativen: „Setze dich durch! Gib alles! Sei perfekt! Die Konkurrenz schläft nie! Sei omnipräsent!“ metaphorisch auf den Punkt. Durch permanente Konkurrenzsituationen entwickelt der Menschen jedoch Frustrations-, Insuffizienz- und Schuldgefühle und arbeitet deshalb, um diese abzuwehren, unablässig und solange die Kräfte dafür ausreichen, an der Selbstoptimierung. Geraten Energie und Aufnahmefähigkeit an ihre Grenzen, bleibt noch der Schritt zu Aufputschmitteln, Medikamenten und Drogen. Nicht nur in der rekordfixierten Hochleistungslogik des Sports spielt Doping eine Rolle. Auch Musiker, Schauspieler und Politiker benutzen Medikamente vor ihren Auftritten, um Ängste zu dämpfen, ihr „soziales Feintuning“ zu verbessern oder Energieressourcen zu mobilisieren und Studenten betreiben Neuro-Enhancement, verbessern also ihre Hirnleistung, indem sie mit Ritalin ihrer Konzentrationsfähigkeit auf die Sprünge helfen (der Ritalinkonsum hat sich in den letzten 10 Jahren verachtfacht!). In solchen Aufputsch- und Betäubungsstrategien zeigt sich auch eine suchtfördernde Struktur unserer Gesellschaft. Das Gespür für die eigenen Belastungsgrenzen geht in der Empfindungslosigkeit verloren, doch irgendwann ist der „Akku“ leer und so verwundert es nicht, dass Burnout und Depressionen zu den typischen Berufskrankheiten des 21. Jahrhunderts zählen.

 

In unserer von Bildwelten geprägten Mediengesellschaft sind wir von perfekten Körpern und Gesichtern makelloser Schönheit umgeben, die zu Introjekten unseres Denkens und Handelns werden: „Sei schön und Du wirst glücklich sein!“, so lautet die Verheißung des verordneten Glücks. Als Konsequenz wird auch der Körper als Statussymbol immer rigideren Leistungsmaximen unterwerfen. Reichen Sport, gesunde Ernährung, Kleidung und Make-up nicht aus um die Diskrepanz zwischen dem Ist-Zustand und dem imaginierten Idealbild zu überwinden, bietet die ästhetische Chirurgie Hilfestellungen. Doch die Models auf dem Laufsteg, Verkörperungen eines avantgardistischen Schönheitsbegriffs, leiden vielfach unter Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie. Die Leibesfeindlichkeit, die sich in diesem Zwangsästhetizismus und dem zugrundeliegenden Gefühl, nie attraktiv genug zu sein, ausdrückt, ist Feind jeder Sinnlichkeit, Erotik und Sexualität. Die Einzelkämpferexistenz erschwert zudem die Entstehung von vertraulichem Kontakt und tieferer Bindung. Diese Zusammenhänge bilden einen Hintergrund für die sich mehrenden Sexual- und Appetenzstörungen in unserer Gesellschaft.

 

Der Schein, die Oberfläche, das Design bilden zunehmend den Ersatz für Bindung, Tiefe und Sinn. Der Mensch als verletzliches, endliches Wesen kommt in der Welt der Perfektion, Hyperdynamik und Grenzenlosigkeit nicht vor: Wir sollen nicht bedürftige Wesen sein, sondern Konsument, denn der Markt bietet das Versprechen, sich um alle unsere Bedürfnisse zu kümmern. Aber die langfristige Verdrängung der eigenen Befindlichkeit scheitert (wie auch der Wachstumszwang des Marktes durch Wirtschaftskrisen widerlegt wird) und die missachteten Bedürfnisse melden sich im Streik von Körper oder Seele zu Wort. Krisen erzwingen die Dekonstruktion, sie helfen uns dabei, das Scheitern wieder zu erlernen, als menschliche Normalität zu akzeptieren und dadurch ein anderes Maß zu finden.

 

Durch den Kampf gegen religiöse, staatliche und kulturelle Bevormundung hat sich der Mensch große Freiräume erschaffen. Die Übermacht des Ökonomischen birgt heute die großen Risiken: Um nicht die seelische und körperliche Gesundheit den Forderungen unerbittlicher äußerer und innerer Antreiber preiszugeben, ist auch hier Abgrenzung notwendig. Es gilt, eigene Bedürfnisse wieder zu entdecken, zu spüren und eigene Grenzen zu definieren und zu wahren. Ein Bewusstseinswandel, der den aufs Äußere, auf die kontinuierliche materielle Wohlstandsmehrung zielenden Wachstumsbegriff ersetzt durch die Vorstellung inneren Wachstums und Reichtums, könnte dabei eine zusätzliche Hilfe sein.

 

Literatur:

Frances, Allen: Die Pille ist nicht dein Freund! Interview im Tagesspiegel am 9.6.2013

Mergel, Thomas: Wir Patchowork-Europäer. Essay, erschienen im Tagesspiegel am 12.3.2009.

Rosa, Helmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2005.